Leitfadenentwicklung

Lernziele

In diesem Teil geht es um die Leitfadenentwicklung für ein Leitfadeninterview. Wir zeigen anhand unseres Forschungsbeispiels, wie man die Leitfadenentwicklung angehen kann und worauf Sie dabei achten müssen.
Wir geben 

  • einen Einblick in den Prozess der Leitfadenentwicklung und 
  • stellen das SPSS-Prinzip als eine mögliche Hilfestellung zur Leitfadenerstellung vor.

Grundlagen: Leitfadenerstellung

Ausgangspunkt bei der Leitfadenentwicklung ist immer die Forschungsfrage und unsere Befragten. Wir formulieren Interviewfragen zu jenen Aspekten, über die wir etwas Neues erfahren wollen. ℹ️

Bei der Beantwortung dieser Fragen produzieren die Befragten Text. Wir Forscher_innen analysieren und interpretieren diesen Text, um damit die Forschungsfrage zu beantworten.
Der Interviewleitfaden ist ein flexibles Instrument. Er gibt Orientierung bei der Interviewführung und berücksichtigt unterschiedliche Situationen. Zum Beispiel, wenn unser Gegenüber eher wenig oder viel redet.

Ein guter Leitfaden hat eine bestimmte Struktur. Ein guter Leitfaden besteht nicht aus einer einfachen Ansammlung an Fragen, sondern folgt einer bestimmten Struktur. Diese Struktur soll einem „natürlichen“ Erzählfluss folgen. Wir beginnen mit allgemeineren Fragen, und gehen dann weiter zu spezifischeren.

Auch wenn die Struktur eines Interviewleitfadens wesentlich, ist es dennoch wichtig, ihn als ein flexibles Instrument zu entwickeln und einzusetzen. Der Leitfaden gibt Orientierung bei der Interviewführung und berücksichtigt unterschiedliche Situationen. Zum Beispiel, wenn unser Gegenüber eher wenig oder viel redet.

Neben der Struktur des Leitfadens, muss auf jeden Fall auch das Prinzip der OFFENHEIT##i:offenheit## in der qualitativen Sozialforschung berücksichtigt werden.

Wir Forscher_innen müssen eine offene Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand einnehmen. D.h. wir dürfen in den Interviews nicht bereits zurechtgelegte Theorien und Hypothesen abfragen, sondern möglichst offen für neue Ideen und Aspekte unseres Themas sein. Es geht beim Leitfaden also darum, einen Kompromiss zu finden: Die Fragen sollen so offen und flexibel wie möglich sein, und so strukturiert wie aufgrund des Forschungsinteresses notwendig.


Eine mögliche Methode, um einen Leitfaden nach diesen Anforderungen zu erstellen, ist die Anwendung des SPSS-Prinzips.

IN DER FORSCHUNGSPRAXIS: DAs SPSS-Prinzip

(Videodauer: ca. 6 Minuten)

Formulierung von Fragen:

Don’ts:

  • Keine Deutungsangebote machen: „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie keine Personalentwicklung …?“
  • Nichts bereits Bekanntes abfragen, keine theoretischen Rahmenkonzepte abfragen: „Was ist Personalentwicklung?“ (Prinzip der Selbstüberraschung!)
  • Keine direkten, suggestiven Fragen: „Sie sind bestimmt gut über die Angebote informiert?“
  • Keine wertenden oder aggressiv klingenden Fragen formulieren: „Waren Sie zu faul für die Gesundheitsangebote?“

Leitfadenerstellung

Do’s:

  • Leitfaden von einer/m Kolleg_in kritisch auf Verständnis lesen lassen.
  • Bei Problemen im Erzählfluss oder schwer verständliche Formulierungen im ersten Interview den Interviewleitfaden entsprechend anpassen.
  • Die Befragten festlegen lassen, was in diesem Thema für sie am wichtigsten ist.
  • Nur ein wenig die Richtung mit den Leitfragen steuern, aber offen sein, wohin die Befragten führen.


Don`ts:

  • Den Leitfaden wie einen Fragebogen einer quantitativen Studie aufbauen.
  • Nicht zu viele Leitfragen formulieren (max. 7).
  • Keine Antwortalternativen vorgeben.
  • Ein qualitatives Interview ist kein journalistisches Interview (kein „ausfragen“; keine Liste an Fragen, die „abgehakt“ wird).

Literatur

Helfferich, Cornelia (2011). Die Qualität qualitativer Daten: Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kruse, Jan (2015). Qualitative Interviewforschung: ein integrativer Ansatz (2., überarbeitete und ergänzte Auflage). Weinheim Basel: Beltz Juventa. 

Libera, Bärbel (2004). Frageformen und Stile. QUASUS. Qualitatives Methodenportal zur Qualitativen Sozial-, Unterrichts- und Schulforschung. [Abruf am 23.03.2022].

Triangulation

 „Triangulation beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf einen untersuchten Gegenstand oder allgemeiner: bei der Beantwortung von Forschungsfragen. Diese Perspektiven können sich in unterschiedlichen Methoden, die angewandt werden, und/oder unterschiedlichen gewählten theoretischen Zugängen konkretisieren, wobei beides wiederum mit einander in Zusammenhang steht bzw. verknüpft werden sollte. Weiterhin bezieht sie sich auf die Kombination unterschiedlicher Datensorten jeweils vor dem Hintergrund der auf die Daten jeweils eingenommenen theoretischen Perspektiven. Diese Perspektiven sollten so weit als möglich gleichberechtigt und gleichermaßen konsequent behandelt und umgesetzt werden. Durch die Triangulation (etwa verschiedener Methoden oder verschiedener Datensorten) sollte ein prinzipieller Erkenntniszuwachs möglich sein, dass also bspw. Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen gewonnen werden, die damit weiter reichen, als es mit einem Zugang möglich wäre.“ (Flick, 2011, S.12)

Flick, Uwe. (2011) Triangulation. 3., Aktualisierte Auflage ed. Wiesbaden: VS Verlag Für Sozialwissenschaften.

Flexibilität

Aufgrund der Elastizität und Flexibilität werden qualitative Verfahren gelegentlich als weiche Methoden im Gegensatz zu den harten oder starren quantitativen Methoden bezeichnet. Häufig wurde dies auch im Sinne einer geringeren Gültigkeit oder Qualität der qualitativen Verfahren missverstanden.

Auch die/der qualitative bzw. explorative Forscher/in führt eine Untersuchung nicht plan- und richtungslos durch, sondern es bedeutet, dass der Blickwinkel zunächst weit ist und erst im Verlauf der Untersuchung fortschreitend zugespitzt wird.

Reflexivität von Gegenstand und Analyse

In interpretativen Prozessen wird den Bedeutungen von menschlichem Verhalten eine prinzipielle Reflexivität unterstellt. Dies gilt sowohl für sprachliches (Symbole, Deutungen, Sprechakte) als auch für nonverbales Verhalten (Gesten, Handlungen usw.).

Da jede Bedeutung reflexiv auf das Ganze verweist, wird die Bedeutung eines Handelns oder eines sprachlichen Ausdrucks nur durch den Rekurs auf den symbolischen oder sozialen Kontext seiner Erscheinung verständlich. Im Sinne der hermeneutischen Zirkularität von Sinnzuweisung und Sinnverstehen setzt somit ein Verständnis der Einzelakte bzw. des Verhaltens immer ein Verständnis des Kontextes voraus.

Die Reflexivität der Methode setzt daher auch eine reflektierte Einstellung der/des Forschenden sowie die Anpassungsfähigkeit seiner Untersuchungsmethoden und -instrumente voraus.

ZIRKULARITÄT DES FORSCHUNGSPROZESSES

Der Forschungsprozess in der qualitativen Sozialforschung ist zirkulär. Damit ist gemeint, dass eine bestimmte Folge von Forschungsschritten mehrmals durchlaufen wird, und der jeweils nächste Schritt von den Ergebnissen des jeweils vorherigen Schrittes abhängt. Es werden zunächst nur wenige nächste Schritte geplant, weil jeder der Forschungsschritte Konsequenzen nach vorne (für das weitere Vorgehen) und nach hinten (Modifikation der Fragestellung) haben kann. Das bedeutet, dass alle Entscheidungen (Erhebungsverfahren, Samplingentscheidungen, Auswertungsverfahren, etc.) vorläufig getroffen werden. Zu Beginn der Forschung liegt nur ein ungefähres Vorverständnis über den Forschungsgegenstand vor. Auf dieser Basis werden zunächst nur wenige nächste Schritte geplant.

Offenheit

Das Prinzip der Offenheit bedeutet Offenheit der Forschenden gegenüber

  1. den Untersuchungspersonen,
  2. den Untersuchungssituationen und
  3. den Untersuchungsmethoden. 


Qualitative Sozialforschung versteht sich im Gegensatz zur quantitativen Vorgehensweise nicht als Hypothesen prüfendes, sondern als Hypothesen generierendes Verfahren. Qualitativ Forschende versuchen also nicht Theorien, Konzepte oder Ideen an der Wirklichkeit zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern Neues zu entdecken. Der Hypothesenentwicklungsprozess wird bei der Anwendung qualitativer Verfahren damit erst zu Ende des Forschungsvorhabens abgeschlossen. Die Forschenden sollen daher so offen wie möglich gegenüber neuen Entwicklungen sein, damit diese auch in die Hypothesengenerierung einfließen können.

Die Forschenden sollen offen für mögliches Neues sein und sich nach Möglichkeit auch nicht vorab informieren, d.h. sehr bewusst mit einer naiven Haltung ins Feld gehen.