Lernziele
Im Laufe eines qualitativen Forschungsprozesses müssen wir immer wieder Auswahlentscheidungen treffen. Eine dieser Auswahlentscheidungen haben wir im Kapitel 1 bereits getroffen, und zwar die Entscheidung über die Forschungsfrage.
Nun müssen wir entscheiden, welche Fälle wir für unsere Untersuchung auswählen. Diesen Prozess nennen wir „das Sampling“. Das Sampling geht Hand-in-Hand mit der Methodenwahl. Diese beiden Entscheidungsprozesse sind nicht voneinander zu trennen.
In diesem Kapitel des Qualitorials wollen wir
- die Samplingstrategien in der qualitativen Sozialforschung erläutern,
- eine passende Samplingstrategie für unser Forschungsprojekt – eine Interviewstudie auswählen und
- zeigen welche Konsequenzen die Fallauswahl für die Ergebnisse bzw. Aussagekraft der gesamten Studie hat.
Grundlagen: Samplingstrategien
Zur Erinnerung: In der qualitativen Sozialforschung haben wir das Ziel, das Feld zu verstehen. Wir wollen das subjektive Erleben und Erfahrungen, Sichtweisen und Theorien verstehen, und zwar auf Ebene des Einzelfalls. Die Verallgemeinerung ist nicht das Ziel. Es interessiert uns hier nicht, wie oft ein bestimmter Typus in der Realität vorkommt, sondern wie er aufscheint, welche Merkmale ein bestimmter Typus hat. Ziel beim Sampling in einer qualitativen Studie ist damit die qualitative Repräsentation und nicht die quantitative.
Prinzipiell sind eine Vollerhebung und das statistische Sampling in einer qualitativen Studie natürlich auch möglich. Wir wollen hier im Qualitorial aber die qualitativen Samplingstrategien vorstellen. Im folgenden Video geben wir Ihnen einen kurzen Überblick zu den – unserer Erfahrung nach – am häufigsten eingesetzten Strategien:
Grundsätzlich lassen sich zwei große Stoßrichtungen im Sampling in der qualitativen Sozialforschung unterscheiden, die auch kombiniert werden können:
Die Vorab-Festlegung der Samplestruktur beruht auf der Logik der Stichprobenziehung. D.h. wir wählen Personen, Gruppen, Organisationen vorab aus, die bestimmte Merkmale haben, die in einer bestimmten Verteilung vorliegen. Typische Merkmale sind: z.B. demografische Aspekte (Alter, Geschlecht, soziale Herkunft, Bildungsniveau etc.) oder weitere forschungsthematische spezifische Aspekte (z.B. Position im Unternehmen, Branche, Abteilung). Die forschungsrelevanten Merkmale werden von vornherein theoretisch begründet und werden unabhängig vom konkret untersuchten Material vor Erhebung und Analyse entwickelt.
Die größte Gefahr bei dieser Vorgehensweise sind sogenannte Kategorienfehler, die uns hier unterlaufen können: bspw., wenn wir vorab annehmen, dass bei unserem Forschungsthema Geschlecht einen Unterschied macht, dann können wir mit dieser Vorab-Festlegung mit der Erhebung bestehende Stereotypen reifizieren/reproduzieren.
Beim schrittweisen Festlegen des Samples werden die Entscheidungen über die Auswahl des Datenmaterials im Laufe der Erhebung getroffen (Flick 2016, S. 158ff.). Oft orientieren sich schrittweise Strategien am theoretischen Sampling (2.1) bzw. werden generell als schrittweise Festlegung bezeichnet (2.2).
Das theoretische Sampling orientiert sich an Glaser/ Strauss (1967). Damit ist gemeint, dass Entscheidungen über die Auswahl und Zusammensetzung des empirischen Materials (Personen, Gruppen, Unternehmen etc.) im Prozess der Datenerhebung und -auswertung gefällt werden.
D.h. wir wählen schrittweise Personen, Gruppen, Organisationen etc. aus, bei denen wir annehmen, dass sie etwas Neues für die zu entwickelnde Theorie beitragen. Die zentrale Frage für die Datenauswahl lautet daher: Welchen Fällen wenden wir uns zur Datenerhebung als nächstes zu? Und mit welcher Absicht?
Beim theoretischen Sampling pendeln wir zwischen Erhebung und Auswertung hin und her, bis theoretische Sättigung eintritt. Dabei wechseln wir zwischen ähnlichen und unterschiedlichen Fällen (also zwischen Homogenität und Heterogenität). Theoretisches Sampling ist nur zu empfehlen, wenn Sie wirklich „grounded“ arbeiten (Methodenwahl: Grounded Theory).
Strategien, die beschreiben, wie die Auswahl anzugehen ist, wenn nicht nach Grounded Theory gearbeitet wird, werden bspw. von Patton (2006) aus der Evaluationsforschung vorgeschlagen:
Gezielte Extremfälle oder abweichende Fälle: Um ein Forschungsthema zu erforschen, kann es hilfreich sein, besonders gelungene oder auch Bereiche, Fälle, die nicht gelungen sind, heranzuziehen.
Typische Fälle: Es werden diejenigen Fälle ausgewählt, in denen z.B. der Verlauf besonders typisch für den Durchschnitt oder die Mehrzahl der Fälle ist.
Maximale Variation: Es werden wenige, aber möglichst unterschiedliche Fälle einbezogen, um Variationsbreiten und Unterschiedlichkeiten im Feld zu erschließen. (Siehe Flick S. 163ff und Patton 2002)
IN DER FORSCHUNGSPRAXIS: AUSWAHL EINER PASSENDEN SAMPLINGSTRATEGIE
(Videodauer: ca. 2.30 Minuten)
Antwort: Wie so oft in der qualitativen Forschung heißt es: „es kommt ganz darauf an…“
Antwort: (1) Welche Samplingstrategie gewählt wurde, (2) welche Rahmenbedingungen und Möglichkeiten man als Forscher_in hat (zeitlich, örtlich, finanziell), (3) wann eine gewisse „Sättigung“ erreicht ist.
Antwort: Also gut, in einer Studie hat man z.B. herausgefunden, dass eine Sättigung nach ca. 7- 12 Interviews eintritt. Andere Autor_innen haben beispielsweise herausgefunden, dass in Dissertationen durchschnittlich 31 Interviews geführt wurden, aber in jedem Fall immer ein Vielfaches von 10.
Testen Sie Ihr Wissen zum Sampling
Überprüfen Sie anhand von sechs Fragen zu Samplingstrategien Ihr Wissen.
Literatur
Flick, Uwe (2016). Qualitative Sozialforschung: eine Einführung (7.). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Glaser, Barney G./Strauss, Anselm (1967). The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. Chicago: Aldine.
Guest, Greg/Bunce, Arwen/Johnson, Laura (2006). How Many Interviews Are Enough?: An Experiment with Data Saturation and Variability. Field Methods, 18(1), 59–82. PDF zum Download.
Hennink, Monique M./Kaiser, Bonnie N./Marconi, Vincent C. (2017). Code Saturation Versus Meaning Saturation: How Many Interviews Are Enough? Qualitative Health Research, 27(4), 591–608.
Kelle, Udo/Kluge, Susann (2010). Vom Einzelfall zum Typus: Fallvergleich und Fallkontrastierung in der Qualitativen Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Mason, Mark (2010). Sample Size and Saturation in PhD Studies Using Qualitative Interviews. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, Vol 11, No 3 (2010): Methods for Qualitative Management Research in the Context of Social Systems Thinking.
Patton, Michael Quinn (2000). Qualitative evaluation and research methods. Newbury Park: Sage Publications.